DAS AUGE IST IN DER WELT, DIE WELT IST IM AUGE
Von Willy Bierter
Die ersten Sonnenstrahlen tauchten die Casamacchia in ein mildes Orange. Sie begannen den Dingen Farbe und Kontur zu verleihen, Unterschiede wieder hervortreten zu lassen – ein euphorischer Augenblick, wie das Auftauchen klarer Einsichten aus der Tiefe. Das war für Fritz die Zeit, seinen Garten aufzusuchen. Pflanzen, Büsche und junge Bäume mussten begossen, der Boden um das frisch gepflanzte Gemüse gelockert werden. Täglich wiederkehrende Arbeiten des Hegens und Pflegens. Es war für ihn auch die Zeit des Staunens, der aufmerksamen und achtsamen Wahrnehmung, wie das Leben in dieser kleinen Welt pulsiert und sie täglich verändert. Der Weg des Tages nahm seinen Lauf.
Bei unserer ersten morgendlichen Begegnung oder später, bei einem Glas Wein, wies er immer darauf hin, dass jedes dieser verschiedenen Dinge und Wesen seine eigene Perspektive und seine besondere Umgebung hat. Also: eine unendliche Vielfalt von Perspektiven und Standpunkten. Eine wichtige Brücke zu seiner Malerei war geschlagen. “Diese Vielfalt gilt es hervorzuholen, und die Perspektiven und Standpunkte immer wieder zu wechseln. So werden fortlaufend neue Unterschiede erzeugt und können die Dinge anders zu uns sprechen. Für ihn könne dies letztlich nur im Dreieck Ich (Maler) – Bild – Ding geschehen. Und mit einem verschmitzten Lächeln fügte er hinzu:“ Zwischen mich und das Ding schiebt sich das Auge – nüchtern, distanziert, liebend oder fasziniert – je nachdem.“
Fritz liebte die elbanische Natur mit ihren pittoresken Felsformationen und steinernen Kolossen, denen Wind, Regen und Salz jene phantastischen Formen und Gestalten verliehen haben. Das transparente Meer in seinem bläulichen Schimmer, das rhythmische Schlagen der Wellen an felsige Ufer, die unbeschreibliche Vielfalt an Lebewesen und Pflanzen unter der Oberfläche. Die Wälder und den einzelnen Baum mit seinem knorrigen Stamm. Die Farbenpracht der Vegetation, den Duft der Blumen. Ich werde nie vergessen, wie wir mit Fritz gegen Mitternacht oben auf dem Felsvorsprung beim alten Bergwerk standen. Die Nacht hatte längst ihr dunkles Gewand über den Ort wie über alles ausgebreitet, und eine leichte Brise flüsterte ihre Melodien. Ein Mondstrahl, sanft und bleich, und in seinem Widerschein sah man den Tanz der Wellen. Und über allem das heiser-melancholische Rufen der Möwen, die immer wieder in die Schwärze der Nacht hinausflogen.
Dies waren für Fritz Augenblicke, “wo Du wirklich zu sehen anfängst, nicht länger mit dem "alten" distanziert-distanzierenden Auge, jenem kühl abmessenden und kontrollierenden Blick, der die Dinge vom Leib hält, alles zu bloßen Gegen-Ständen macht, nein, Du schaust nun mit dem ganzen Körper, läßt die Dinge zunächst selber sprechen, erlaubst ihnen, sich gleichsam auszusprechen. Du läßt sie ausreden, ohne sie durch ein voreiliges, abschließendes Urteil zu unterbrechen, wenn sie noch so vieles zu sagen haben. Das geduldige Innehalten beim achtsamen, klaren und unabgelenkten Sehen eröffnet manchmal gleichsam mühelos tiefe Einblicke und erschließt verborgene Beziehungen, die sich dem ungeduldigen Zerren eines allzu aggressiven Intellekts versagen“.
Alle diese Eindrücke und filigranen Wahrnehmungen waren für Fritz der Stoff für seine Malerei. Doch seine Bilder sind kein Kopieren der optischen Ordnung, kein photographisches Abbilden dieser elbanischen Welt – das war nicht seine Sache. “Malen heißt nicht abmalen“ und “Ich suche mich mit der Natur zu verbünden, nicht sie nachzuahmen“ waren zwei seiner wichtigsten Leitsätze. Die innerste Triebfeder seiner Malerei war Experimentieren mit Formen und Farben, spielerisch den Tiefenstrukturen und ihren Zusammenhangsmustern nachspüren, die hinter all diesen Wahrnehmungen und Eindrücken verborgen sind, sie neu erschaffen und ins Licht verschiedenster Farben eintauchen. Und noch etwas zeichnet seine Malerei aus: Sie war Prozess und Prozessieren, ein stetes Arbeiten an den Bildern, sie verändern, neue Bezüge zwischen Strukturelementen herstellen, bisherige weglassen, andere Farben hineinbringen. Manchmal gönnte er sich und dem Bild eine Atempause – und die konnte durchaus ein paar Jahre dauern – um es dann eines Tages wieder auf die Staffelei zu stellen und in das bisher Geschaffene einzutauchen. Das Spiel mit Formen und Farben wurde fortgeführt, immer wieder geprägt von überraschenden Ergebnissen visueller Neuartigkeit. Eine neue Dynamik sich verändernder Strukturen wurde geboren.
Seine Bilder bergen eine fast unendliche Zahl an wiedererkennbaren Formen und Farben. Wer sich aufmerksam und achtsam auf die Suche begibt, wird es finden, das, was man Fraktale nennt, Gebilde der Selbstähnlichkeit, Ausschnitte der Struktur, die der Gesamtstruktur gleichen. Fritz hat mich mit einem Karton, aus dem ein kleines quadratisches Fenster ausgeschnitten war, auf die Reise durch so manches seiner Bilder mitgenommen, und mir diese Gebilde der Selbstähnlichkeit – eben Fraktale – vor Augen geführt.
Fast alle seiner Bilder sind so etwas wie das vorläufige Ergebnis einer mehrjährigen Forschungsreise durch das Chaos. Jede Schöpfung braucht das Chaos. Chaos ... nichts bleibt ... alles verändert sich ... Bewegung ... wohin? Jede Ordnung braucht die Unordnung, das Chaos, das ursprünglich Formlose, das einen kreativen Prozess auslösen kann. Etwas Neues entsteht. Doch Fritz wusste zutiefst, auch wenn er nur ganz selten darüber sprach, daß jede Form immer wieder zerfallen muss, damit wieder etwas Neues entstehen kann. Die Spirale des Vergehens und Entstehens, des Verschwindens und Auftauchens dreht sich weiter.
Willy Bierter (Physiker)
Basel, Januar 2003