DIE GEBURT DES FEUERVOGELS
Von Henky Hentschel
Liebe Nicole!
Du wirst Dich erinnern. Alles fing für mich damit an, dass Karl Berger in Heidelberg dieses „Sommerstudio für musikalische Improvisation“ veranstaltete. Ich drehte einen Film darüber und fuhr zum Schnitt nach München. Eines Tages stand Karl mit einigen hochkarätigen Jazzern hinter mir, und alle schauten sich an, was ich bisher zu Stande gebracht hatte. Sie waren auf dem Weg nach Elba, um dort bei Euch Ferien zu machen und in Portoferraio ein Konzert zu geben. Sie äußerten sich beifällig über meine Arbeit und fuhren weiter gen Süden. Und bis dahin hatte alles noch seine Richtigkeit. Ich arbeitete noch zwei Wochen weiter, und dann mischte sich die Magie ein. Zu dem Job des Filmeschneidens gehört es, eine Schnittliste zu führen. Das tat ich mit Hilfe eines kleinen Büchleins. Am 25 August schlug ich eine neue Seite auf und fand eine Notiz von Karl: 27 August um zwanzig Uhr Konzert in Portoferraio, komm runter!
Es war die Zeit der psychedelischen Drogen, und man hatte das „Sich-Wundern“ längst eingestellt. Die Beatles sangen „ Lucy in the Sky with Diamonds“ , Pink Floyd machten sich auf den Krieg gegen Descartes zu gewinnen. Die Frage, wie es Karl Berger gelungen war, seinen Ruf exakt auf der richtigen Seite ertönen zu lassen, hätten Spießer mit „Zufall“ abgetan. Für mich gab es keinen Zweifel: nicht Karl hatte mich gerufen, sondern die unsichtbaren Mächte, die die Schicksale weben. Karl war nichts weiter als ihr Handlanger, was allerdings bewies dass Er mit ihnen in Verbindung stand. Am nächsten Tag schloss ich den Schneideraum ab, und wir fuhren los – Axel Jamm – der mir assistierte, sein abgehalfterter 2CV und ich. Pünktlich zum Konzert legte die Fähre in Portoferraio an.
Wie sich später herausstellte, hat diese Reise mein Leben in andere Bahnen gelenkt. Die Tage, die ich damals bei Euch verbrachte, haben mich gelehrt anders mit der Zeit umzugehen. Ich empfand für mich völlig neue Energien. Ich lernte das Schoene zu sehen. Ich lernte, dass man wie Fritz aus einem Leben ein Kunstwerk machen kann. Ich lernte so vieles…
Da war das Meer, der Duft der Eukalyptusbäume, die Architektur mit der Fritz den Menschen mit der Natur versöhnte, die Musik, die alles und alle wie mit einem feinen Band zusammenhielt, das Licht und die Schatten, die Bilder im Atelier, die Muse zwischen den Musen, die gebratenen Fische, die einem in den Mund schwammen, der Wein von Galletti.
Ich fuhr zurück, machte den Film fertig, verkaufte ihn und fühlte mich wie neu. Und dennoch hatte ich noch nicht den Schimmer einer Ahnung davon, dass diese Insel mich vierzehn Jahre meines Lebens festhalten würde, die Insel und Ihr, Eure Familie.
In Deutschland versuchten die Baader-Meinhof Gruppe und „revolutionäre“ Psychoclubs wie die Hydra eine unmögliche Revolution anzuzetteln. Cylla steckte bis über beide Ohren in der Hydra, und wir lebten in deren Groß kommune. Cylla stimmte immerhin zu, eine Lederwerkstatt aufzumachen. Die anderen lebten vom Geld des Staates, den sie zerschlagen wollten. Wir lernten Taschen und Hosen und Jacken zu schneidern. Im Februar verkauften wir Sachen im Wert von 20 Mark. Im Oktober betrug der Umsatz 8.000 Mark. Es gab zwei mögliche Lösungen: man konnte den Betrieb anmelden und eine angestellte suchen, man konnte den Betrieb aber auch schließen. Wir beschlossen zuzumachen und über Afrika und Südamerika nach Kanada zu fahren. Wir packten unser Leder und das Werkzeug in eine Kiste und fuhren los. Erste Station sollte Elba sein. Fritz gab uns das eine der beiden Häuschen umsonst, so, als seien wir seit Jahren befreundet. Wir zogen ein, und fingen an zu nähen, diesmal mit der Hand. Abends saßen wir mit Euch zusammen. Abends spielten wir Canasta. Abends schauten wir die Nachrichten im Fernsehen an.
Im Vorderen Orient kriselte es. Der Nachrichtensprecher erklärte, es könne zum Einsatz von Atomwaffen kommen. Fritz schlug vor, den Fernseher abzuschalten. Niemand hatte etwas dagegen. Soweit hatten wir unsere Standpunkte und Sichtweisen angenähert, dass wir ganz selbstverständlich und gemeinsam davon ausgingen, dass die Probleme des Vorderen Orients nicht unsere waren. Fritz hatte zu malen, Cylla und ich hatten zu schneidern. Die Atombomben im Vorderen Orient würden keine Gelegenheit bekommen, uns von unserer jeweiligen Arbeit abzuhalten.
Dann hast Du, Nicole, uns das Häuschen gezeigt, die Concia. Wir mieteten es. Der Besitzer war ein Metzger im Dorf. Ein Freak aus Turin war der Vormieter. Er war eine Weile verschwunden, hatte aber versprochen, am 1. März auszuziehen – spätestens. Als er nicht kam, brach ich die Tür auf und schaffte den ganzen Kram des Turiners aus dem Haus. Fritz war empört. Seine Liebe zu den Menschen lies Schritte wie diese nicht zu. Ich schaffte die Hälfte des Plunders wieder ins Haus.
Unterhalb des Häuschens hatte es einen Orangengarten. Die Bäume waren unter Brombeerranken verschwunden. Wir schnitten die Brombeeren ab und legten einen Komposthaufen an. Mit dem Kompost war nicht viel anzufangen, denn wir hatten keinen Mist. Fritz schenkte uns ein Zwerghuhn das brüten konnte, und wir kauften einen großen Gockel. Der Gockel besorgte dem Zwerghuhn täglich. Wir bauten einen verschlag , und die Zwergin brütete Ihre Eier aus. Die so entstandene Generation von Hühnern war doppelt so groß wie die Mutter und halb so groß wie der Vater, aber sie brütete. Ein Grundstein war gelegt.
Wir sprachen mit Fritz über Mangel an Mist. Er verstand eigentlich wie immer. Zu meinem Geburtstag führte er eine Ziege auf die Concia. Jetzt hatten wir Mist, aber wir mussten einen Stall bauen. Als der Stall fertig war, wurde mir klar, dass meine Chance, nach Toronto zu kommen, inzwischen zu einem Traum geworden war. Ich hatte zu viele Wurzeln auf Elba geschlagen. Tatsächlich sollten vierzehn Jahre vergehen, bis ich mich entschied, die Concia zu verlassen und in die Karibik zu gehen – der Frauen wegen.
Noch heute, mit 62 Jahren, ist mein Körper stark und erkrankt so gut wie nie. Das habe ich Dir, Nicole, und Fritz zu verdanken. Ihr habt mit dem Geschenk der Ziege dafür gesorgt, dass ich tatsächlich viele Stunden harter Arbeit darauf verwendete, aus der Concia etwas zu machen.
Diese vierzehn Jahre Arbeit haben mich heute unangreifbar für Krankheiten gemacht. Nach wie vor zehrt mein Körper von dieser Etappe meines Lebens.
Ich machte aus der Concia den ersten biologischen Bauernhof der Insel, vielleicht sogar Italiens. Die Leute aus dem Dorf lachten über mich. Meine Tomaten waren am Anfang nicht einmal halb so groß wie Ihre.
Aber die Eier, die meine Hühner legten, schmeckten nicht nur besser, als die aus den Legebatterien, sie leisteten außerdem auch einen Beitrag zur Weiterentwicklung der schönen Künste auf Elba: Fritz war mein einziger Kunde, der sie nicht kaufte, um sie aufzuessen, sondern um sie zur Herstellung seiner Tempera zu benutzen. Mit den Eiern der anderen war es offenbar schwerer, eine Farbe zusammenzumischen. Manchmal saßen wir im Atelier, hörten Jazz, und ich versuchte diesen unbeschreiblichen Bildern Titel zu geben. Eines Nachmittags hockte ich zwei Stunden vor einem goldroten Gemälde, dann kam es mir:“ Die Geburt des Feuervogels“ hieß das Bild von Stund an.
Einer kam aus Amerika, um euch zu besuchen. Er war Astrologe und hatte es da drüben zu einem Schloss gebracht, denn so erfüllte er die Voraussage seines eigenen Horoskops. Ihr habt ihn gebeten und gedrängt, mein Horoskop zu erstellen. Dabei kam heraus dass ich keineswegs ein Bauer sei, sondern ein Mensch der schreiben, veröffentlichen und lehren muss. Ich erklärte den Mann für unzuständig und die Astrologie zu einem Aberglauben. Heute weiß ich, dass der Mann Recht hatte, auch wenn ich immer noch auf meinem Balkon hier in Havanna Tomaten züchte.
Zum letzten Mal haben wir uns gesehen, als ich aus Guatemala kam, um die Endfassung von „Jaja’s Klau“ zu schreiben. In Dominiques Zimmer hatte ich ideale Voraussetzungen, und das Buch wurde so, wie der Ort war, an dem ich es beendete. Und Fritz war noch immer der Mann, an dem ich mich selber maß, und erneut feststellte, dass ich noch ziemlich klein war.
Havanna, Januar 2003